Der Sohn eines deutschen Rabbiners in New York begründete die Bewegung für ethische Kultur aus dem Reformjudentum heraus. Sie wirkte bis nach Europa und ist noch heute eine der beständigsten humanistischen Gemeinschaften der USA.
Am 13. August 1851 wird Felix Adler im rheinhessischen Alzey geboren. Soziale Gerechtigkeit ist das Credo seiner Erziehung und ein Kernelement des Reformjudentums. Sein Vater Samuel Adler ist Rabbiner, der 1857 einem Ruf an die Synagoge Emanu-El nach New York folgt. Da ist Felix Adler sechs Jahre alt. Er besucht New Yorker Schulen, studiert bis 1870 am Columbia College und später in Deutschland an der Berliner Humboldt-Universität1, aber auch bei Abraham Geiger, dem Vordenker des Reformjudentums, der im heutigen Leo-Baeck-Haus dozierte. 1873 promoviert Adler an der Universität Heidelberg im Fach Semistik. All dies tut er, um sich in New York auf einen Werdegang als Rabbi vorzubereiten. Doch dazu kommt es nicht.
Adler hält seine einzige Predigt „Judaism of the Future“ am 11. Oktober 1873 in jener Synagoge, der sein Vater als Oberrabbiner vorsteht. Im Anschluss wird er von der dortigen Kongregation gefragt, ob er denn überhaupt an Gott glaube. Er antwortet mit „ja, aber nicht an euren Gott“, womit sich seine Absage an das Rabbinat begründet. Adler fasst Gott zu dieser Zeit als eine Kraft auf, die den Menschen dazu befähigt, das Unrecht in der Welt wiedergutzumachen.
Verantwortungsvolles Handeln ist wichtiger als der Glaube
2Am 15. Mai 1876 hält Felix Adler in New York jene Rede, mit der er die Gesellschaft für Ethische Kultur begründet. Adler fordert, bei den zukünftigen Gemeindetreffen auf Gebete und religiöse Rituale zu verzichten. Sinnvoller seien Vorlesungen und Musik. Diese seien so zu gestalten, dass sie die Menschen intellektuell und seelisch stärkten, damit sie besser füreinander da sein könnten. Der oder die Dozierende solle von der Geschichte der menschlichen Bestrebungen reden, dabei den Fehlern der Vergangenheit auf den Grund gehen, aber auch die leuchtenden Beispiele hervorheben. Insgesamt liege die Aufgabe der Sprechenden darin, unsere Lebenswirklichkeit zu bereichern, indem die größeren Zusammenhänge aufgezeigt würden. Außerdem sollten ethische Handlungsprinzipien in Bezug auf das praktische Leben erörtert werden. Dabei gelte es, deutlich zu machen, welche Verantwortung wir als Wesen hätten, die zur Moral befähigt sind. Angesichts der politischen und sozialen Übel in der Welt müssten die Redner aber auch Trost spenden können. Wo die Sprache an ihre Grenzen stoße, solle Musik anklingen, welche die Seelen der Menschen zu beruhigen und zu öffnen vermöge.
Ein Pionier auf dem Gebiet der praktischen Ethik
Bereits 1877 etabliert Felix Adlers Ethical Society den ersten häuslichen Pflegedienst, der ohne religiöse Missionsziele auskommt. Adlers Kritik an der Unterbringung von Migrantenfamilien führt zur Gründung einer Kommission zur Gebäudesanierung in Manhattan. Er ist auch der Erste, der Vorschläge zum staatlich subventionierten Wohnungsbau unterbreitet. Ebenfalls 1877 gründet Adler den ersten kostenfreien Kindergarten für Arbeiterfamilien in den USA. 1878 erweitert er ihn um eine Grundschule. Dieser Tage deckt die Bildungseinrichtung als Ethical Culture Fieldston School alle zwölf Jahrgänge ab. Heute ist die einst soziale Bildungseinrichtung allerdings eine elitäre Privatschule. Sie verlangt 4.800 Dollar Schulgebühr pro Monat, wobei nur 22 Prozent der Schüler:innen überhaupt von den hauseigenen Fördermitteln profitieren können.
Doch zurück ins 19. Jahrhundert: 1886 führt Adlers Mitstreiter Stanton Coit (1857–1944) in den USA nachbarschaftliche Bildungs- und Gemeindezentren nach britischem Vorbild ein, sogenannte „University Settlements“. 1888 gründet Adlers Frau Helen (1859–1948, geborene Goldmark) zusammen mit fünf anderen Müttern die Society for the Study of Child Nature, die sich bis in die 1970er-Jahre hinein als Child Study Association of America der Erforschung und Kommunikation von dem widmet, was dem Kindeswohl förderlich ist. Ein Jahr später gründet die Ethical Society eine Organisation, welche die Lebenssituation von behinderten Kindern zu verbessern sucht. Aus ihr geht später das Blythedale-Kinderkrankenhaus hervor, das noch heute existiert. 1909 spielt die Ethical Society eine unterstützende Rolle bei der Gründung der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) und 1911 findet aufgrund von Adlers Anregungen der „Erste
Universelle Kongress Zur Völkerverständigung“3 statt, an dem Adler zusammen mit Vertretern von mehr als 50 Ländern in London teilnimmt. Von 1904 bis 1921 ist er Vorsitzender des National Child Labor Committee in den USA, das die Kinderarbeit abzuschaffen sucht.
Felix Adler prägt die soziale Kultur auch in Deutschland
1892 reist Adler nach Berlin. Am 7. Mai hält er eine Rede am Victoria-Lyceum. Adler fordert, ethische Gesellschaften zu gründen. Hier in Berlin folgt unter anderem Wilhelm Julius Foerster (1832–1921) seinem Ruf. Zusammen mit 40 anderen gibt Foerster am 19. Oktober 1892 die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur (DGEK) bekannt.4 Sie war „die erste relevante Vereinigung, die sich für die Einführung eines allgemeinen Moralunterrichts für alle Schüler:innen einsetzte“, schreibt der Humanistische Verband Berlin-Brandenburg.5 1893 gründet die DGEK unter Leitung der Frauenrechtlerin Jeanette Schwerin (1852–1899) das Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen (DZI). Es ist für die Vergabe des Deutschen Spendensiegels bekannt.
Was bleibt von Felix Adler?
Adlers Denken und Wirken speist sich aus der deutsch-jüdischen Kulturgeschichte. Das Reformjudentum mit seinem Sinn für soziale Gerechtigkeit ist untrennbar mit dem Humanismus verbunden. Adlers Schriften sind Standardwerke zur praktischen Ethik. Die Handlungen, die seine Worte angestoßen haben, sprechen für sich.
Jan-Christian Petersen (2023)
(Dieser Beitrag wurde 2023 zum 100. Geburtstag von Felix Adler bei hpd.de veröffentlicht)
- Damals noch Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin ↩︎
- Wenngleich die Ethical Society schon früh Frauen in Führungspositionen hob, gab es die gendergerechte Sprache natürlich noch nicht. Bemerkenswert ist jedoch, dass die unwürdige Behandlung von Frauen, die Adler schon in jungen Jahren beobachtet hatte, scheinbar die erste soziale Ungerechtigkeit gewesen ist, die er immer wieder adressierte. Die Ausbeutung von Frauen durch Adlers männliche Geschlechtsgenossen und die Ausbeutung der Arbeiterklasse sind seinerzeit für ihn die größten Übel der Welt. ↩︎
- Der Originaltitel der Veranstaltung lautete „First Universal Races Congress“, was man so heute nicht mehr sagt. ↩︎
- Vgl.: Horst Groschopp: Die drei berühmten Foersters und die ethische Kultur, Humanismus in Berlin um 1900; Urania Reihe: Humanismus | Mit dem Humanistischen Verband Deutschlands,LV Berlin; 6.5.2008; abgerufen am 11.8.2021: https://humanistisch.de ↩︎
- Vgl.: Dr. Alexander Bischkopf: Der lange Weg in die Schule; HVD Berlin-Brandenburg, 2017; abgerufen am 11.8.2021: https://humanistisch.de ↩︎