Holocaustgedenken würdig gestalten – für alle

Holocaustgedenken würdig gestalten – für alle!

(01.2019) Der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar ist ein gesamtgesellschaftliches Anliegen. Gerade Anlässe mit diesem Anspruch müssen von staatlicher Seite so ausgerichtet werden, dass sich alle Menschen vor ihrem individuellen Weltanschauungshintergrund gleichberechtigt mit ihnen identifizieren können.

Gegen diese einfache Prämisse handelte der Kreis Nordfriesland, als er im Rahmen des Holocaust-Gedenktags 2019 zu einem Gottesdienst trotz vorab eingereichter Protestnote im Kreistagsitzungssaal einlud.

Das Grundgesetz (Art. 144) sieht die Trennung von Staat und Kirche vor.1 Bereits in den 1960er-Jahren legte das Bundesverfassungsgericht besagten Artikel dahin gehend aus, dass der Staat „allen Bürgern gleichsam als Heimstatt ohne Ansehen der Religion zu dienen“ habe. Richtet nun der Kreis Nordfriesland einen Gottesdienst im Sitzungssaal des Kreistaggebäudes aus, wird gegen dieses Gesetz verstoßen.

Gottesdienste sind ein Angebot für Suchende. Sie gehören in die Kirchen. Verkündern einer Religion steht es hier weitgehend frei, ihr spezifisches Gedenken mit Gottesbezug anzubieten. Davon ist jedoch auf Veranstaltungen im gesamtgesellschaftlichen Auftrag, die auch noch in Regierungsgebäuden abgehalten werden, Abstand zu nehmen. Auch Pastorinnen und Pastoren sind wie alle anderen Menschen dazu befähigt, hier weltlich neutral aufzutreten, sodass alle Bürgerinnen und Bürger uneingeschränkt Zugang zu einer staatlichen Veranstaltung finden. Das Gedenken wird dadurch nicht eingeschränkt, wohl aber die Teilhabe an dem gesamtgesellschaftlichen Anliegen, wenn über den Gottesbezug besagte staatlich organisierte Gedenkveranstaltung nur für Christen vollumfänglich zugänglich bleibt.

Die Kirchen werden allerdings von immer weniger Menschen besucht. Laut einer Fowid-Studie nehmen an einem Gottesdienst, der an einem normalen Sonntag stattfindet, bestenfalls noch 7,5 % der evangelischen Kirchenmitglieder teil. Im bundesweiten Durchschnitt sind es 3,5 %. Hieran zeigt sich, dass der Gottesdienst, der eben kein neutrales Veranstaltungsformat, sondern das zentrale Element der christlichen Verkündigung ist, selbst bei den Kirchenmitgliedern kaum Anklang findet. – Wie kann der Kreis Nordfriesland da annehmen, dass ein solcher Gottesdienst die angemessene Form ist, um den Gedenkbedürfnissen aller Bürgerinnen und Bürger gerecht zu werden?

Im Jahr 2017 lebten bereits 37 % der Menschen in Deutschland konfessionsfrei. Damit liegt diese Gruppe vor den Katholiken (28 %) und vor den Menschen evangelischen Glaubens (26 %). Im Jahr 2016 ergab bereits eine andere Umfrage, dass sich 82 % aller Kirchenmitglieder als „nicht praktizierende Christen“ bezeichnen. Besagte Untersuchung kommt zu dem Schluss: „Dem Deutungs- und Mitwirkungsanspruch von Religionsgemeinschaften und religiösen Verbänden steht somit entgegen, dass die nominelle Zahl ihrer Mitglieder keine Basis dafür bildet.“ Wird nun ein gesamtgesellschaftliches Anliegen wie der Holocaust-Gedenktag überproportional in ein kirchliches Engagement hineingerückt, finden auch immer weniger Menschen Zugang zum Holocaustgedenken, weil sie die Angebote vor ihrem tatsächlichen Weltanschauungshintergrund schlichtweg nicht ansprechen.

Die nebenstehenden Veranstaltungen, die in einer kreiseigenen Broschüre angekündigt wurden, finden jedoch überwiegend vor einem christlichen Hintergrund statt. Neben den diesbezüglich eindeutigen Gottesdiensten, die das Angebot maßgeblich prägen, finden wir einen Beitrag von Henning Röhl. Sein persönlicher christlicher Hintergrund, den er als Gründer von Bibel-TV zweifellos besitzt, spielt in seiner Rede allerdings keine Rolle und mag allenfalls als Zugangsvoraussetzung dafür gewertet werden, im Kontext eines christlich geprägten Gedenkens als Redner eingeladen worden zu sein. Herr Röhl schildert gleich zu Anfang, welchen Eindruck ein Besuch in Auschwitz bei ihm hinterlassen hat. Es sind diese Erfahrungen in den Gedenkstätten, die alle Menschen motivieren, sich auch heute noch kritisch mit Vergangenheit und Gegenwart zu befassen. – Der Interreligiöse Dialog, der ebenfalls einen religiösen Gedenkkontext aufweist, schließt wiederum über den Begriff „interreligiös“ gleich alle säkularen Weltanschauungsgemeinschaften aus, die den Religionen rechtlich (Art. 4 GG) gleichgestellt sind. Dabei sind die Menschenrechte, um die es in besagtem Dialog geht, eine durch und durch säkulare Angelegenheit. Die Würde des Menschen wurde vor 70 Jahren explizit nicht religiös begründet, weil eine solche Definition viel mehr Menschen von einem würdigen Menschsein ausgeschlossen hätte. Dass unter diesen Umständen kein Vertreter einer säkularen Sichtweise am Dialog teilnimmt, ist eine programmatische Schwäche, die gleichsam auf eine Überbetonung des christlichen Engagements in der Gedenkarbeit zurückzuführen ist.

Das, was die vom Kreis Nordfriesland kuratierte Sichtbarmachung von Angeboten zum Holocaustgedenken offenbart, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Staat und Kirche eben auch als einheitliche Bedingung für relevante Gedenkarbeit im öffentlichen Raum kommuniziert werden. Das geschieht aufgrund jener gesellschaftspolitischen Schieflage, die sich in den eingangs erwähnten Zahlen spiegelt. Jene staatliche Kulturarbeit, wie sie der Kreis Nordfriesland betreibt, geht damit an der Wirklichkeit vorbei; denn unsere Gesellschaft wird immer pluralistischer und die Motivationsquellen, aus denen die Menschen Kraft zum Handeln schöpfen, sind weitaus vielfältiger, als sie vom Kreis dargestellt werden. Eine zeitgemäße staatliche Kulturarbeit hat daher die Aufgabe, diesen Pluralismus aufzufächern und sichtbar zu machen. Nur so wird und bleibt auch das Holocaustgedenken ein gesamtgesellschaftliches Anliegen. Gerade in der Gedenkkultur ist dieser Anspruch unabdingbar; denn bei entsprechender Spiegelung aller Motive, die die Menschen zum Handeln bewegen, ließen sich überhaupt mehr Menschen für soziales und kulturelles Engagement gewinnen.

Jan-Christian Petersen (Mitglied der Humanistischen Initiative Schleswig-Holstein)

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1 Art. 140 GG verweist u. a. auf Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung und schließt besagten Artikel ausdrücklich in das Deutsche Grundgesetz mit ein: „Es besteht keine Staatskirche.

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