NS-Opfer-Gedenken – gemeinsam Identität finden

NS-Opfer-Gedenken – gemeinsam Identität finden

Landkreise haben mehr zu sein als ihre Kirchenkreise. Kulturbeauftragte, welche das NS-Opfer-Gedenken im kommunalen Auftrag ausrichten, haben diesbezüglich ein differenziertes Wertebewusstsein an den Tag zu legen. Die dementsprechende Gedenkarbeit besteht aus zwei Elementen: einem kontemplativen und einem intellektuell-ästhetischen Zugang.

2019 hat die Humanistische Initiative hier gezeigt, wie in Nordfriesland der Zugang zum zentralen NS-Opfer-Gedenken am 27.  Januar durch Gottesdienste eingeschränkt wird.

2020 ist das etwas anders, was aus den nebenstehenden Veranstaltungshinweisen des Kreises ersichtlich wird. Statt der letztjährigen Monotonie aus Glaubensinhalten, einem Referat und einem rein interreligiösen Dialog zeigt sich eine deutliche Bereicherung. Filmvorführungen, ein Vortrag mit Aussprache und Diskussion sowie eine Kunstaktion sind die Stichworte, anhand derer sich das Spektrum zukünftiger Aktivitäten noch bunter gestalten lässt. So entstehen vielfältige intellektuell-ästhetische Angebote, die wirklich allen Menschen offenstehen.

Dieselbe Offenheit muss an den kontemplativen Zugang zum NS-Opfer-Gedenktag gelegt werden. Im Jahr 2019 lag der Stein des Anstoßes vor allem darin, dass Maria Jepsen (Bischöfin i. R. der EKD) trotz Kritik einen Gottesdienst im nordfriesischen Kreistagsgebäude abgehalten hat. Auch das ist im Jahr 2020 ein wenig anders. Der Kreis Nordfriesland bietet nun im Kreistagsgebäude keinen Gottesdienst mehr an, sondern eine „Andacht mit Bischöfin i. R. Maria Jepsen“. Im Sinne der Religionsbarrierefreiheit ist diese Einladung nach wie vor verfehlt; denn der Begriff „Andacht“ lässt sich zwar weltlich wie religiös konnotieren, erfährt aber seinen eindeutigen religiösen Bezug durch das Rollenverständnis, in dem Frau Jepsen in Zusammenhang mit besagter Andacht auftritt. Anders gesagt: Wer aus der angegebenen Formulierung schließt, dass es sich hier um eine offene Veranstaltung handelt, die alle Menschen ohne Ansehen der Religion einladen soll, muss schon sehr naiv sein. Genau das gilt es aber, in einem Kreistagsgebäude am 27. Januar zu veranstalten. Stattdessen wird die eingebürgerte Gewohnheit, ein staatliches NS-Opfer-Gedenken unter der Ägide christlicher Bekenntnisinhalte zu begehen, über eine solche Einladung nicht weiter geöffnet, sondern in ihrem Selbstverständnis gefestigt.

Ein positives Gegenbeispiel: Joachim Gauck hat in seiner Funktion als Bundespräsident stets auf sein Rollenverständnis als Pastor verzichtet. Nur dadurch, dass er diese Haltung bewusst einzunehmen gewillt war, hat er es geschafft, ein Bundespräsident für alle Bürgerinnen und Bürger zu sein. Dies ist der Anspruch, den es auch angesichts demokratischer Institutionen wie einem lokalen Kreistagsgebäude oder dem staatlich organisierten NS-Opfer-Gedenken deutlich zu kommunizieren und zu leben gilt.

Landtags-, Kreistagsgebäude und Rathäuser haben ihre eigene Identität. Sie sind weder Kirchen noch Moscheen. Anders als in den meinungspluralistischen Institutionen der Demokratie wird in den Gotteshäusern der Glaube an eine einzige und vermeintlich letztgültige Wahrheit verkündet, die auch Christen aufgrund ihres Missionsauftrags zur Wahrheit für alle erheben wollen. Dieser Missionsauftrag ist Teil der christlichen Identität und ein autokratischer Wesenszug, der nur dadurch mit der Demokratie vereinbar bleibt, wenn er als Angebot formuliert bleibt und nicht als Zwang für andere auftritt. Bekenntnisinhalte und religiöse Bekenntnisformen gehören daher nicht in die gesamtgesellschaftliche, sondern immer in eine private Öffentlichkeit.

Erläuterung: Was ist die private Öffentlichkeit? Eine private Öffentlichkeit findet in den Kirchen und Moscheen statt, aber auch auf Kundgebungen und Demonstrationen sowie in den Kommentaren der Presse. Hierbei handelt es sich um einen von der Demokratie geschützten Raum, in dem persönliche Meinungsäußerungen öffentlich getätigt werden. Diese private Öffentlichkeit ist Teil der gesamtgesellschaftlichen Vielfalt. Während allerdings die private Öffentlichkeit von Gruppen gebildet wird, die eine Meinung oder eben einen Glauben teilen, geht es beim Zusammenschluss auf gesamtgesellschaftlicher Ebene darum, nicht Meinungen, sondern Werte zu teilen.

Glaube ist Meinung, Werte sind universell. Man kann den Glauben eines anderen ablehnen und trotzdem mit ihm oder ihr aufgrund gemeinsamer Werte zusammenfinden. Das rein werteorientierte Zusammenfinden, ohne dass sich jemand dem Glauben eines anderen unterwerfen muss, ist ein zentraler demokratischer Gedanke, aus dem jene demokratische Identität hervorgeht, welche Christen, Muslime, Atheisten und Andersgläubige angesichts des NS-Opfer-Gedenkens kontemplativ zu verbinden vermag.

Eine kontemplative Gedenkform für alle ist die Gedenkstunde. In diesem Rahmen lassen sich Gedenkreden, Ansprachen und mahnende Worte in freier Rede zu Gehör bringen und durch tragende Musik sowie symbolische Handlungen bereichern. Handlungen, die niemanden in einer religiösen oder weltanschaulichen Identität einschränken, sind nicht die religiöse Andacht oder der Gottesdienst, nicht der Segen oder das Gebet, sondern die Schweigeminute, die Kranzniederlegung und insbesondere das Putzen der zu Tausenden verlegten Stolpersteine, wodurch sich an den Moment ihrer Erstverlegung gedanklich anknüpfen lässt. Eine derart stille Geste ist es, welche alle Menschen zu einem kontemplativen Augenblick nicht im Selbstverständnis einer Religion, sondern im Selbstverständnis der Demokratie einzuladen vermag; denn diese Demokratie lebt „Vielfalt nach dem Prinzip der Gleichheit“, wie es in einer Kampagne des Bundes heißt. Eine solche Gleichbehandlung muss, was das staatlich ausgerichtete NS-Opfer-Gedenken betrifft, von der Einladung bis zur Verabschiedung der Gäste gewährleistet sein.

Kann es dennoch religiös gefärbte Gedenkveranstaltungen geben? – Ja. Allerdings sind alle Engagierten aufgefordert, sich zunächst in ihrer Identität als Mitglieder einer pluralistischen Wertegemeinschaft zu begreifen und zuerst einen gemeinsamen Kontemplationsmoment für alle zu ermöglichen, bevor sie sich den spezifischen Gedenkformen ihrer Glaubens- und Kirchenkreise zuwenden. Hieraus ergibt sich auch die Förder- und Forderungsgewichtung all jener kommunalen Fachdienste, Stiftungen und Kulturbeauftragten, die sich damit betraut sehen, Gedenkveranstaltungen für die Bürgerinnen und Bürger einzurichten.

Im Rahmen dieser Gewichtung ist es ausdrücklich erwünscht, dass Glaubensgemeinschaften ihren Mitgliedern eigene Zugänge zum NS-Opfer-Gedenken eröffnen. Die Einladung dazu gilt insbesondere für Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, die in der deutschen Geschichte nicht derart stark verwurzelt sind wie das Christentum. Diese Einladung ist seitens der Demokratie allerdings nur formulierbar, wenn gewährleistet ist, dass man an anderer Stelle aufgrund gemeinsamer Werte auch wieder zusammenfindet.

Die durch das staatliche NS-Opfer-Gedenken an den Tag gelegte integrative und verbindende Kraft, welche die Idee der bundesdeutschen Demokratie wie keine andere zu tragen vermag, ist das Annehmen der historischen Verantwortung, die im sichtbaren Gedenken an die Opfer der NS-Zeit zum Ausdruck kommt. Wer diese Geschichte mitzutragen bereit ist, ist Deutsche oder Deutscher in einem Verständnis, das weit über die Landes-, Abstammungs- und Konfessionsgrenzen hinausweist. Allein auf dieser Ebene, die weder von Meinungen oder Glaubensansichten getrübt werden darf, gilt es, die Menschen angesichts offizieller Gedenkveranstaltungen anzusprechen und einzuladen. Hier entsteht die Wertegemeinschaft der Demokratie.

Jan-Christian Petersen (02.2020)

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